Erste Arbeitstagung der DGV-Kommission „going digital/Digitalisierung im Alltag“
Am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Marburg, 21.‒23.3.2012
Dies ist eine Vorveröffentlichung des Tagungsberichts in der „Zeitschrift für Volkskunde“, 108. Jahrgang (2012), H.2., mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Digitalisierungsprozesse, wie sie mit Computerisierung, Internet und Mobiltelefonie stattfinden, durchdringen längst den Alltag und erfordern daher eine explizite Auseinandersetzung der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie/Volkskunde mit diesem Themengebiet. Die Sprecherin der neu eingesetzten Kommission Gertraud Koch (Friedrichshafen) sowie die Gastgeber Karl Braun und Christian Schönholz (Marburg) hoben dies in ihren Begrüßungsworten hervor. Neben einigen einschlägigen Publikationen aus dem Fach wurden in den letzten Jahren vor allem auch studentische Abschlussarbeiten im Themenbereich „Digitalisierung im Alltag“ verfasst. Ziel der Tagung war es, diese insbesondere durch den wissenschaftlichen Nachwuchs entwickelten Forschungsperspektiven zu versammeln, einen Überblick über die Fragestellungen und Gegenstände zu gewinnen sowie die Forschenden im Bereich der Digitalisierung im Alltag zu vernetzen. Die Tagung gliederte sich so in zwei medienanthropologische Impulsvorträge von bereits seit langem mit dem Thema befassten WissenschaftlerInnen, in Kurzpräsentationen von Qualifizierungsarbeiten auf unterschiedlichen Niveaus (von Seminararbeiten bis hin zu Post-doc Projekten) und eine Zusammenfassung der eingenommenen Forschungsperspektiven sowie sich anschließende Verabredungen für die weitere Arbeit der Kommission.
Anregende Impulse erhielten die ca. 26 TeilnehmerInnen, darunter auch zahlreiche Studierende, von Manfred Faßler (Frankfurt a.M.). In seinem Eröffnungsstatement verwies er auf die Rasanz des Prozesses der Digitalisierung des Alltags, mit der es Schritt zu halten gilt. Kultur konstituiert sich im Zuge dieses Prozesses zunehmend unabhängig von territorialen Bedingungen, unabhängig auch von bekannten Tradierungsmechanismen, ist geprägt durch die Neuorganisation von Vergesellschaftung und durch das Verschwimmen der Grenzen zwischen Technik und Mensch. Für das Fach stellt sich die Aufgabe, diesen Veränderungen thematisch und methodisch zu begegnen. – Am zweiten Tag stellte Götz Bachmann (Goldsmiths College, London) ein Studie zu aktuellen Entwicklungen im japanischen Internet vor, wo auf der Plattform Nico Nico Doga spezifische Interaktionsformate entwickelt wurden, mit denen Internetnutzer durch Tagging (individuelle Verschlagwortung) die Übertragung von (Musik-)Videobotschaften unmittelbar während der Ausstrahlung beeinflussen können. Der spezifische Modus an Unmittelbarkeit, die sogenannte ‚Lifeness‘, die so von und für ein Massenpublikum generiert wird, erfreut sich höchster Beliebtheit in Japan und weist vielfältige Schnittstellen zur Alltagskultur dort auf.
Die vorgestellten Forschungsarbeiten von studentischer Seite – MasterabsolventInnen, Promovierenden und Post-Docs – waren in ganz unterschiedlichen Phasen der Umsetzung. Post-Doc-Projekte wurden u.a. von Marion Näser-Lather (Paderborn) vorgestellt, die kürzlich eine Studie zum Thema Aneignung im Bereich Fanfiction abgeschlossen hatte. Dabei analysierte sie insbesondere anhand von Forschungen im Internet kulturelle Aushandlungsprozesse, Authentifikationsbemühungen, Kontrollmechanismen und die Generierung intertextueller Bezüge innerhalb der Fangemeinschaften. Ihr aktuelles Forschungsvorhaben beschäftigt sich mit der italienischen Frauenbewegung „Se non ora quando?“, die sich – darin anderen modernen Protestbewegungen vergleichbar – wesentlich über das Internet organisiert. Die im Projekt angewandten ethnographischen Methoden schließen die Analyse der Online-Netzwerke und Internetrepräsentationen und deren Vergleich mit den Offline-Selbstrepräsentationen der Aktivistinnen mit ein. Digitale Kommunikationsprozesse sind ebenfalls zentraler Bestandteil des Forschungsvorhabens von Satsuki Sakuragi (Tübingen), die sich vergleichend mit der SMS- und Internetkommunikation in Japan und Deutschland auseinandersetzt. Dabei stehen Fragestellungen von Anonymität und Öffentlichkeit im Vordergrund.
Auf Seite der Promotionsprojekte stellte Raphael Peter (Marburg) sein Forschungsvorhaben zur Geschichte des Spannungsverhältnisses von medialer Kontrolle und Freiheit vor. Manuel Heib (Marburg) erarbeitet derzeit eine Perspektive auf digitale Medien zwischen Technikentwicklung und menschlicher Adaption, die anhand der historischen Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstellen des Computers betrachtet wird. Christoph Bareither (Tübingen/Berlin) beschäftigt sich mit den Online-Spielkulturen sogenannter ‚Killerspiele‘, d.h. einerseits mit den kulturellen Praktiken des Spielens (die durch Online-Feldforschung analysiert werden), andererseits mit der Frage, wie sich diese Praktiken in den Offline-Alltag der Akteure einfügen. – An der Schnittstelle von ethnographischer Forschung und der aktiven Förderung der Digitalisierung durch die Entwicklung von Computerprogrammen arbeitet Jesko-Alexander Zychski (Kiel). Seine Promotion verknüpft er mit der Entwicklung von Software für die Einbindung von Kunden in sogenannte Open-Innovation-Prozesse. Michael Westrich (Berlin) bezieht in seinem laufenden Promotionsprojekt zu Schwarzafrikanern ohne Pass an der spanisch-marokkanischen Grenze die Akteure als aktive DokumentarfilmerInnen ihres eigenen Alltags in seinen ethnographischen Arbeitsprozess mit ein. Sein Interesse gilt auch der Reflexion neuer Möglichkeiten der ethnographischen Forschung (über das Internet, durch digitalen Film und Fotografie) und Repräsentation aufgrund der Digitalisierung. – Barbara Frischling (Graz) präsentierte ihre bereits abgeschlossene Diplomarbeit zu ambivalenten Nutzungspraktiken von Facebook, in der sie sich insbesondere mit der Frage nach den Handlungsspielräumen der Nutzer zwischen Gestaltungsmöglichkeit und Kontrolliertheit auseinandersetzte. Die bereits fortgeschrittene Magisterarbeit von Michael Metzger (Berlin) setzt sich mit dem Phänomen der „pervasive games“ auseinander, d.h. mit über Mobiltelefone organisierten Spielen zur Erkundung der Stadt, die den öffentlichen Raum mithilfe digitaler Medien in kreative Umdeutungsprozesse einbinden. Eine weitere noch am Anfang stehende Magisterarbeit wurde von Thomas J. Heid (München) vorgestellt, der sich mit den Auswirkungen von Smartphones auf Alltagspraxen beschäftigt.
Studierende aus einem Seminar zur kulturwissenschaftlichen Medienforschung, das gemeinsam von Falk Blask (Berlin) und Joachim Kallinich (Stuttgart/Berlin) an der Humboldt Universität Berlin durchgeführt wurde, im Sommersemester 2012 fortgeführt wird und auf die Bündelung und Sichtbarmachung bisher existierender Forschungsarbeiten in diesem Bereich zielt, stellten ihre in diesem Arbeitszusammenhang entstandenen Hausarbeiten vor. Dennis Eckhardt (Berlin) arbeitet zur Queer-Szene im Internet, Nicolai von Neudeck (Berlin) zum Umgang mit digitalen Daten, Gerhild Quitsch (Berlin) zum Multiplayer-Online-Game „World of Warcraft“ und Christian Blumhagen (Berlin) diskutierte in einem medientheoretisch inspirierten Vortrag die drei Konzepte des Flaneurs, des Fremden und des Voyeurs unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters. Ebenfalls Erfahrungen aus der Lehre trug Sanna Schondelmayer (Berlin) vor, die ein Seminar zu Freundschaften zwischen Online-Netzwerken und Alltagsleben geleitet hatte und hier insbesondere die digitalen Kompetenzen der Studierenden in den Mittelpunkt stellte. – Eine interessante, erweiternde Perspektive brachte Matthias Harbeck (Berlin) als Fachreferent für Europäische Ethnologie und Leiter des Sondersammelgebiets Volks- und Völkerkunde an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität in Berlin ein, der in dieser Funktion digitale Infrastrukturen für das wissenschaftliche Arbeiten bereitstellt (EVIFA) und aus dieser Perspektive heraus großes Interesse an der thematischen Aufarbeitung des Themas Digitalisierung im Fach hat.
Abschließend umriss die Kommissionsvorsitzende Gertraud Koch zusammenfassend aus den Präsentationen und Diskussionen der Tagung heraus die Themen- und Arbeitsfelder der Kommission. Ein zentraler Forschungsgegenstand sind die Medienpraktiken im Alltag, wie sie beispielsweise in Zusammenhang mit Facebook, Computerspielen oder Protestbewegungen entstehen. Der (medien)ethnographische Blick richtet sich dabei auch auf Re-Konfigurationen bzw. Re-Medialisierungen, die nicht nur in der Veränderung kultureller Praxis, sondern auch in den Transformationen kultureller Artefakte (z.B. vom Buch zum eBook) zu beobachten sind. Solche Prozesse sind eingebettet in umfassende Technokulturen, in denen die Produzenten digitaler Angebote ebenso zuhause sind wie die Medienamateure. Diese Kulturen sind zunehmend geprägt durch die Koevolution von Biologie, Sozialem und Technik und werfen somit die Frage nach den Bedingungen menschlicher Existenz und dem Wesen des Anthropos im digitalen Zeitalter auf. Der spezifische Beitrag der auch historisch arbeitenden Forschung in diesen von vielen Disziplinen bearbeiteten Feldern besteht aber auch darin, auf die Genealogien zu verweisen, die sich aus dem prä-digitalen Zeitalter fortsetzen. Außerdem betonte Gertraud Koch die Herausforderung der Professionalisierung ethnographischen Arbeitens mithilfe digitaler Medien. Nicht nur die neuen Felder, auch die Erweiterung des Repertoires ethnographischer Methoden, die durch digitale Technologien erschlossen werden, erfordern eine offene und kritische Diskussion innerhalb des Faches.
Die Kommission (mit derzeit 25 Mitgliedern) bestätigte Gertraud Koch für ein weiteres Jahr als amtierende Vorsitzende/Sprecherin und wählte Manuel Heib zum stellvertretenden Vorsitzenden/Sprecher. Verschiedene Mitglieder der Kommission beschäftigen sich im kommenden Jahr mit Teilprojekten, wie der Ausarbeitung einer themenbezogenen Bibliographie, der Erschließung von Websources, der Entwicklung neuer Publikationsformate und der Nachwuchsförderung (Summerschools, Seminare). An der Humboldt Universität Berlin besteht außerdem der Wunsch, in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der Kommission „Digitalisierung im Alltag“ ein Forschungslabor zum Themenbereich „Ethnologische Medienforschung“ einzurichten. Die nächste Arbeitstagung der Kommission wird voraussichtlich im März 2013 in Berlin stattfinden. Interessierte finden weitere Informationen über die Kommission auf der Webseite www.goingdigital.de – auf dem Blog der Seite werden auch die über das Jahr fortlaufenden Aktivitäten der Kommission dokumentiert und Impulse für ein Nachdenken über Digitalisierungsprozesse im Alltag aus Perspektive der volkskundlichen Kulturwissenschaft gegeben.
Christoph Bareither (Tübingen / Berlin)