TAGUNGEN

Zweite Arbeitstagung (2013)

von | Apr 2, 2020

Zweite Arbeitstagung der dgv-Kommission „going digital / Digitalisierung im Alltag“

Am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, 13.-15. März 2013

Dies ist eine Vorveröffentlichung des Tagungsberichts in der „Zeitschrift für Volkskunde“, 109. Jahrgang (2013), H.1., mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

„Wie leben wir?“ Diese für die Volkskunde/Europäische Ethnologie zentrale Frage, so der Gastgeber Wolfgang Kaschuba (Berlin) in seinem Grußwort an die Kommission, muss heute die Logiken digitaler Medien, das Zusammenspiel von virtuellen und sozialen Räumen und die neuen Verschränkungen von Wissen und Praxis in einer digitalisierten Alltagswelt mit einschließen. Um sich dieser Aufgabe zu stellen, traf sich die 2011 gegründete dgv-Kommission „Digitalisierung im Alltag“ 2013 bereits im zweiten Jahr in Folge. Im Sinne eines Workshops hatten die VeranstalterInnen Sanna Schondelmayer (Berlin) und Christian Blumhagen (Berlin) das Gewicht der Arbeitstagung auf fünf Impulsvorträge einerseits und auf themenzentrierte Arbeiten in Kleingruppen andererseits verteilt.
Den Auftakt machte Gertraud Koch (Hamburg). In ihrem Vortrag „Augmented Realities. Neue Texturen der Stadt“ diskutierte sie Smartphone-Apps und andere Internetanwendungen, durch die unsere Alltagswirklichkeit mit medialen bzw. digitalen Informationen angereichert und verschränkt werden kann. Als alltagsnahes Beispiel führte sie die myWiesn-App an, die den physischen Raum des Oktoberfests mit digitalen Informationen überlagert (Länge der Schlangen vor Festzelten, Details zu anwesenden FlirtpartnerInnen, Trinksprüche samt Übersetzungen, usw.) und dadurch massenmediale und face-to-face-Kommunikation ineinanderfließen lässt. Weitere Beispiele sind City-Apps (interaktive Reiseführer) bzw. Museum-Apps oder auch Praktiken wie das populäre Geocaching (eine Art Schnitzeljagd via GPS). Durch „handhelds“ (bspw. Smartphones) und zunehmend auch „wearables“ (bspw. Google Glass) rücken „augmented realities“ den AkteurInnen nah auf den Leib – nicht mehr nur das Hier und Jetzt prägen unser Erleben eines Raumes, sondern auch die durch „Imaginationsmaschinen“ vermittelten digitalen Daten. Insbesondere urbane Räume verändern sich rapide, und die „Textur der Stadt“ (R. Lindner) wird für manche AkteurInnen zum „Interface“, zur Oberfläche der Konfiguration und Rekonfiguration (M. Faßler), zur Schnittstelle einer medialisierten Welterfahrung. Als Herausforderung für das Fach hob Koch schließlich die Aufgabe hervor, die durch „Augmented Realities“ ermöglichten Veränderungen sozialer Praktiken zu untersuchen.
Diesen Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen schloss sich die historische Perspektive von Kaspar Maase (Tübingen) an. In seinem Vortrag „Die Unterwelt der Kindermedien. Alltag, Wissen und Generationenambivalenz in der Auseinandersetzung um die Gefahren der neuesten Medien“ führte er die ZuhörerInnen zurück in die Deutsche Kaiserzeit, indem er die damaligen Schundkämpfe gegen Groschenhefte und Unterhaltungskino nachzeichnete. Durch einen historisch-medienethnografischen Zugang verdeutlichte er die damalige Wahrnehmung einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung durch die „Kinder der Massenkultur“. Gemeint sind damit solche Kinder und Jugendliche, die in eine moderne Mediengesellschaft hineingewachsen waren und dadurch spezifische, für die Generation der Eltern durchaus bedrohlich anmutende Wissensbestände erworben hatten. Die hier bereits auftretenden Konflikte, so Maase, setzen sich heute fort im Kontext von Internet, Social Media und Computerspielen, die zu Inbegriffen einer „Unterwelt der Kindermedien“ geworden sind. Dass deren Entwicklung sich bis in die Kaiserzeit zurückverfolgen lässt, verweist auf die Relevanz historisch-medienethnografischer Zugänge für die Arbeiten der Kommission.
Thematisch passend folgte der Vortrag von Estrid Sørensen (Bochum) zum „Wissen über Gewaltspiele“. Ausgehend von einem an Bronislaw Malinowskis Arbeiten angelehnten Wissensbegriff, der von unterschiedlichen Arten des Wissens ausgeht, relativierte Sørensen dichotome Sichtweisen auf gewaltdarstellende Computerspiele, die entweder von einer (gefährlichen) Wirkung der Spiele oder von einer (unproblematischen) Wirkungslosigkeit ausgehen. Stattdessen argumentierte sie, dass das Wissen um „Gewaltspiele“ – sie ließ die AkteurInnen selbst definieren, was darunter zu verstehen sei – stets eingebunden ist in verschiedene „Mikrowelten“ (H. Verran). Anhand qualitativer Interviews mit Familien und an der Debatte beteiligten WissenschaftlerInnen skizzierte Sørensen einige dieser Mikrowelten und das jeweils sehr verschiedenartige Wissen um Gewaltspiele in ihnen. Die Wirkungen von Gewaltspielen, so Sørensen, können nur in Relation mit diesen spezifischen Wissensbeständen verstanden werden. Hier könne die ethnografische Forschung ansetzen, um die Frage nach Medienwirkungen nicht gänzlich der positivistischen Wirkungsforschung zu überlassen.
Einblick in eine medienphilosophische Perspektive auf den Themenbereich Digitalisierung gab Katrin Köppert (Berlin) mit ihrem Vortrag „Toxische Körper: Medien der Ansteckung zu Zeiten von AIDS“. Das HI-Virus könne, so Köppert, in Bezugnahme auf den Affektbegriff bei Spinoza und Deleuze, auch als toxischer, durch die Affekte Schmerz und Begehren gekennzeichneter Körper gelesen werden. Dies erlaube eine Lesart, die über eine passive Sichtweise des infizierten Körpers hinausgehe. Am Beispiel der Videos des Aids-Aktivisten Gregg Bordowitz verdeutlichte sie die zentrale Rolle der Technik für eine kritische Auseinandersetzung und den alltäglichen Umgang mit der Krankheit.
„‚Privacy is Dead, Get Over it‘? Privatheit im Netz – und darüber hinaus“ – mit diesem Vortragstitel stellte Carsten Ochs (Darmstadt) das durch die Post-Privacy-Debatte postulierte Ende der Privatheit in Frage. Dabei verwies er einerseits auf Diskurse vom Ende der Privatheit in der Vergangenheit, andererseits auf die Reaktionen, die die Ausstellung „Privacy“ in der Frankfurter Kunsthalle hervorgerufen hatte. Eine von Ochs im Rahmen des Projekts „Internet-Privacy – Eine Kultur der Privatsphäre und des Vertrauens im Internet“ durchgeführte Fokusstudie widmet sich den Privatheitsvorstellungen von „Digital Natives“, technikaffinen sowie technikdistanzierten NutzerInnen. Während alle drei Fokusgruppen ihre Privatheitsvorstellungen teilweise vom Offline- auf das Online-Leben übertragen würden, sei das Kontrollbedürfnis dieser drei Gruppen sehr unterschiedlich stark ausgeprägt, so Ochs. Dies zeige sich zum Beispiel daran, dass in der Gruppe der Technikdistanzierten nicht nur die Abgabe, sondern auch der Erhalt von unerwünschten Informationen als Eindringen in die Privatsphäre wahrgenommen würde. Abschließend betonte er den Bedarf an dichten Beschreibungen von Privatheit im Netz. Methodisch könne man sich dem Themenkomplex sowohl kulturhistorisch (in Bezug auf Normenwandel), als auch ethnografisch (in Bezug auf Privatheitspraktiken und Privatheit im Kulturvergleich bzw. mit Fokus auf die genutzten Interfaces) annähern.
Die Vorträge waren gerahmt von Diskussionen in Arbeitsgruppen, deren Themen von den Mitgliedern der Kommission im Vorfeld angeregt und von den OrganisatorInnen ausgearbeitet wurden. Unter dem Stichwort „Ethnografie im Netz: Grenzen und Grenzerweiterungen“ wurde beispielsweise die notwendige Weiterentwicklung ethnografischer Methoden diskutiert, wie etwa die Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung online, die Frage nach einer Online-Forschungsethik, aber auch die Dringlichkeit von Zugängen, die eine Verbindung von Online- und Offline-Forschung erlauben. Im Zuge der Diskussion zu „Technik vs. Mensch: Reziproke Prozesse zwischen digital devices & User/Produzent“ wurde für eine mögliche Rückbesinnung auf teilnehmende Beobachtung plädiert, sowie die Bedeutung von Technik-Sprache hervorgehoben, deren Kenntnis zur Nutzung sowie zur Beschreibung des Umgangs mit Technik notwendig ist. In der Arbeitsgruppe „Spannungsfeld: Raum, Körper, Information“ tauchte hingegen das „Ambient Assisted Living“, die Gestaltung computergestützter Wohnräume für ältere und benachteiligte Menschen, als zentrales Beispiel auf, das zu Fragen nach dem Verhältnis von Kontrollverlust und Freiheitsgewinn durch eine digitalisierte Lebenswelt führte.
Unter der Überschrift „Medien und Gewalt“ wurden innerhalb einer weiteren Arbeitsgruppe drei Promotionsprojekte zu gewaltdarstellenden Computerspielen (an der Universität Bochum und der Universität Tübingen) vorgestellt, diskutiert und mit den Impulsvorträgen von Kaspar Maase und Estrid Sørensen in Bezug gesetzt. Dabei ging es erstens um die Regulierung des Zugangs zu entsprechenden Spielen, zweitens um die Frage nach den vielfältigen Umgangsweisen mit „ludischer Gewalt“ und drittens um die Vermittlung von Wissensbeständen durch (Welt-)Kriegsspiele. In der Gruppe „Wechselwirkungen zwischen Online und Offline“ wurde neben dem Verweis auf die Nicht-Trennbarkeit dieser Kategorien bzw. die damit in Zusammenhang stehenden Wechselwirkungen deren analytische Notwendigkeit betont, jedoch auch die Frage nach alternativen Begrifflichkeiten gestellt. „Macht/Gegenmacht“ war der Titel einer weiteren Arbeitsgruppe, bei der unter anderem die Zusammenhänge von Macht und Wissen sowie von Handlungs- und Deutungsmacht diskutiert wurden. Das Thema „C/Kreativität im Internet“ regte zur Diskussion verschiedener Formen von Kreativität im Internet an: vernakuläre Kreativität, Genialität oder subversive Kreativität, die eine Unterwanderung der technischen Möglichkeit darstellt, indem vorgegebene Designs umgenutzt werden. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Wissenschafts-Feld selbst nahm die Arbeitsgruppe „Wissenschaftliche Praxen & Wissen im Netz/im digitalisierten Alltag“ in den Fokus, in der zum Beispiel der Wissensaustausch durch Blogs oder die Bedeutung von Online-Publikationen thematisiert wurden.
Für das kommende Jahr plant die Kommission eine Intensivierung der Aktivitäten, sowohl durch Austausch über themenrelevante Literatur via Blog (www.goingdigital.de) als auch durch Vorarbeiten zu einer eigenen Schriftenreihe. Sowohl die Festlegung der Satzung der Kommission als auch die Wahl von Sprecherin und Sprecher wird auf der Mitgliederversammlung des diesjährigen dgv-Kongresses in Nürnberg stattfinden.

Christoph Bareither/Barbara Frischling
Berlin/Tübingen/Graz