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Beschreibung – (H)acktivismus und Partizipation?

von | Apr. 9, 2020

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Die demokratisierenden Potentiale des Internets wurden insbesondere in der Frühphase der Nutzung digitaler Medien betont. Dem Internet wurden eine neue Qualität der Vernetzung sowie bessere Möglichkeiten von Kollaboration und Partizipation zugeschrieben, die sich unter anderem in der Wirkmächtigkeit sozialer Bewegungen zeigten. Howard Rheingold beschrieb die Effekte spontan kollaborierender Smart Mobs, und Manuel Castells stellte die These auf, Netzwerke und digitale Technologien spielten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung neuer Formen von Politik, Kultur und Gesellschaft. Gegenstimmen sahen die Nutzung digitaler Medien kritischer: Joseph Weizenbaum sah in einem zu großem Vertrauen in computergestützte Entscheidungsprozeduren eine Gefahr für das politische Handeln. Jaron Lanier bezeichnete Schwarmintelligenz als Ausdruck von Durchschnittsmeinungen und das Handeln der Massen in der Onlinewelt als „digitale Barbarei“; die Open-Source-Bewegung deutete er als Form der Ausbeutung. Alexander Galloway, Eugene Thacker und auch andere Forscher verwiesen schließlich auf die Vermachtung digitaler Infrastrukturen und die Gefahren durch Datamining, Überwachung, Zensur und Steuerungsversuchen sowohl seitens staatlicher Organe als auch durch die Kommerzialisierung des web 2.0, manifest etwa in der Macht von Quasimonopolisten wie Google oder Facebook.
Von diesen kontroversen Potentialen ausgehend soll auf der Tagung die Frage nach dem Politischen im Digitalen neu gestellt werden. Das Politische begreifen wir in diesem Kontext angelehnt an Ulrich Bröckling und Robert Feustel als gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über Verfahrensweisen und Normen, die durch die Elemente des Dissenses, des Widerstreits, des Ereignisses und der Unterbrechung geprägt sind. Folgende drei Themenfelder sollen im Focus der Tagung stehen:

1. Digitale Praxen und Aktivismus
Zum einen soll der Zusammenhang zwischen Entstehungsprozessen, Organisations- und Protestformen von Bewegungen und der Nutzung digitaler Medien beleuchtet werden. Diese scheint eine Reduktion notwendiger Ressourcen zu bedingen, sei es bezüglich der für Proteste notwendigen Mitgliederzahl, sei es hinsichtlich materieller Voraussetzungen oder der Notwendigkeit einer Organisationsstruktur. Verleihen digitale Organisationsformen also marginalisierten Gruppen eine Stimme – beispielsweise Frauen, denen Online-Medien aufgrund traditionaler Rollenbilder und fehlender Care-Infrastrukturen oft erst politische Partizipation ermöglichen? Auf der anderen Seite scheint Online-Aktivismus mit geringerem Identifikationsgrad und höherer Fluidität einherzugehen – wie wirkt sich dies auf die Beziehungen zwischen den Aktivist*innen und die Herausbildung einer gemeinsamen Identität aus? Angesichts der Erfolge von onlinebasierten Kampagnen, Hackerkollektiven und Whistleblowern und auf der anderen Seite der Skepsis gegenüber der Nachhaltigkeit von online-Aktivismus kann gefragt werden, welche Potentiale und Problematiken mit dem Einsatz von Flashmobs, Online-Petitionen oder Hacktivismus verbunden sind.
Zudem ist die Beziehung zwischen den Eigenschaften digitaler Infrastrukturen und bewegungsinternen Diskursen und Praxen in den Blick zu nehmen. Inwieweit formen Netzwerktechniken Engagement bzw. inwiefern geben in die neuen Medien eingeschriebene Architekturen einen Rahmen des Protestes vor? Welchen Einfluss haben etwaige inhärente Medieneigenschaften bzw. diesbezügliche Zuschreibungen auf die Art und Weise der Nutzung für Protestorganisation und -durchführung? Inwiefern ist eine Aneignung digitaler Infrastrukturen möglich, durch die diese von den Aktivist*innen produktiv genutzt werden können, eventuell auch entgegen intendierter Nutzungsweisen, Programmarchitekturen und Algorithmen? Auch die potentiellen Auswirkungen auf Gruppendynamiken und Deutungsmacht innerhalb von Bewegungen sind zu untersuchen. Werden Hierarchien transzendiert oder kulturelle Konventionen, Normen und Praktiken reproduziert? Wie durchdringen sich Mediennutzung und bewegungsinterne Normen z.B. der Horizontalität?

2. Diskursivierung und Konstituierung von Öffentlichkeiten
Das automatisierte Sortieren, Klassifizieren und Hierarchisieren von Information, die algorithmic culture (Ted Striphas), bringt neue kognitive und handlungspraktische Habitualisierungen hervor. Wie wird die Wahrnehmung des Politischen (re)konfiguriert (z.B. die Etablierung von Normen wie transparency, sharing)?
Gefahren der Manipulation und Ausbeutung der User durch Social Networks steht das Potential alternativer Informationsportale gegenüber. Wie werden, etwa durch die Personalisierung von Webinhalten und die Dominanz bestimmter Diensteanbieter, Meinungsbildungsprozesse beeinflusst? Welche (ungeplanten) Dynamiken der Herausbildung von Deutungsmacht entstehen durch den Informationsfluss in sozialen Netzwerken, Foren und Blogs?
In Anbetracht der Gestaltung von verfügbarem Alltagswissen mittels Algorithmen, etwa bei Google, kann gefragt werden, inwiefern die politische Wissens- und Willensbildung kanalisiert verläuft und inwiefern es zu Konformisierungen kommt. Ist Informiertheit nur noch im Sinne einer normierten Meinung zu denken? In welchem Verhältnis stehen Normierungs- und Pluralisierungstendenzen, Teil – und Gegenöffentlichkeiten?

3. Partizipation und Teilhabe
Zu fragen ist in diesem Zusammenhang nach den potentiellen Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die Art und Weise der politischen Teilhabe von Bürgern. Welche Rolle spielen freie Software, der Zugang zu Wissen und alternative Plattformen/Medien? In welcher Form ist fluide Demokratie möglich? Inwiefern sind digitalen Infrastrukturen Mechanismen der Inklusion vs. Exklusion eingeschrieben (Stichwort: digital divide), und inwieweit können sie durch soziale Praktiken angeeignet werden? Wie ist die Nutzung digitaler Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten mit Kategorien wie Gender verschränkt?
Auch der Begriff des politischen Handelns bedarf im Kontext der Digitalisierung einer neuen Reflexion. Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach der Möglichkeit politischen Handelns. Bedeutet dieses die digitalisierte Form des Konsums von Information und Wissen oder die Nutzung im Sinne digitaler Kulturtechniken als gestalterisches, die zugrundeliegenden Strukturen begreifendes Bedienen und damit eine Aneignung und einen subversiven Gebrauch digitaler Infrastrukturen? Kommt es in diesem Zusammenhang zur Herausbildung einer „Elite“ der Hacker*innen bzw. politisch Handlungsmächtigen, denen passive Konsument*innen der Bedienoberfläche des web 2.0 gegenüberstehen?
Die Tagung möchte die genannten Themenfelder in einem internationalen und interdisziplinären Austausch miteinander in Beziehung setzen und dadurch zu einer fachlichen Debatte beitragen, die für den Kontext der politischen Dimension des Digitalen relevante Begriffe, Annahmen und Theorien einer Reflexion unterzieht.

Description

Especially in the early years of digital media use, the democratizing potential of the internet was emphasized. The new quality of interconnectedness and better possibilities for collaboration and participation were characteristics attributed to the web, being evident among other things in the increasing power of social movements. Howard Rheingold has described the effects of spontaneously collaborating smart mobs, and Manuel Castells has postulated the theory that networks and digital technologies play a decisive role in the emergence of new forms of politics, culture, and society. Others have adopted a more critical stance toward the use of digital media: Joseph Weizenbaum has seen an excessive confidence in computer-based decision procedures as a danger for political action. Jaron Lanier has referred to swarm intelligence as an expression of opinions of the average, and to actions of the masses in the online world as “digital barbarism”; he has interpreted the open source movement as form of exploitation. Lastly, Alexander Galloway, Eugene Thacker and also other researchers have pointed to the concentration of power within digital infrastructures and the dangers stemming from data mining, surveillance, censorship and control efforts by the authorities as well as through the commercialization of the web 2.0, manifesting itself, for example, in the power of quasi monopolists like Google or Facebook.
Starting from these controversial potentials, the conference aims to raise anew the issue of the political aspect of the digital. Based on Urich Bröckling’s and Robert Feustel’s definition, in this context the political can be defined as processes of societal negotiation relating to  procedures and norms, and characterized by elements of dissent, conflict, event and disruption.
The conference will focus on the following three topics:

1. Digital practices and activism
First, the connection between digital infrastructures and the genesis, organization and protest practices of movements has to be considered. The use of digital media seems to imply a reduction of necessary resources, regarding the number of members needed for protest as well as its material prerequisites or the necessity of an organizational structure. Do digital forms of organization, thus, give voice to marginalized groups – like, for example, women, whose political participation is – because of traditional roles and the lack of care infrastructures – often only made possible through online media? On the other hand, online activism seems to be accompanied by a lesser degree of identification and higher fluidity – how does this reflect on the relationships between activists and the emergence of a common identity? In light of the success of online based organizations, hacker collectives and whistleblowers on one hand and with respect to skepticism towards the sustainability of pure online activism on the other hand, it has to be asked what potentials and problematics are connected with the usage of flash mobs, online petitions and hacktivism.
Also, the relationship between the properties of digital infrastructures and discourses and practices within movements needs to be addressed. In what way do network techniques shape commitment, and how far do architectures inscribed into new media define the frame of protest? How do potentially inherent media properties respectively accordant ascriptions influence the way such media are used for the organization and implementation of protest? In what way can digital infrastructures be appropriated to enable activists to use them productively, even if contrary to their intended uses, software architectures and algorithms? In addition, the potential effects on group dynamics and the power of interpretation has to be analyzed. Are hierarchies being transcended or are cultural conventions, norms and practices reproduced? How do media use and norms within movements, e.g. horizontality, interact?

2. Discursivization and Constitution of Public Spheres
The automatic sorting, classifying and hierarchizing of information, the “algorithmic culture” (Ted Striphas) creates new cognitive and practical habitualizations. How is the perception of the political (re)configured (e.g. the establishment of norms like transparency, sharing)?
On one hand, users risk being manipulated and exploited by social networks; on the other hand, there is the potential of alternative information portals. How are processes of opinion formation influenced, e.g. by the personalization of web content and the dominance of certain service providers? Which (unplanned) dynamics of the development of power of interpretation are generated by the information flow within social networks, forums and blogs?
Taking into account the creation of available everyday knowledge through algorithms, e.g. by Google, one has to ask whether the formation of political knowledge and will is channeled and in what way do conformation processes occur. Is awareness now only thinkable in the sense of a normed opinion? What is the relationship between tendencies of standardization vs. pluralization, sub- and counter publics?

3. Participation and Inclusion
In this context questions arise concerning the potential consequences of the usage of digital media on the mode of citizens’ political participation. Which roles do free software, the access to knowledge and alternative platforms/media play? In what form is a fluid democracy possible? How are mechanisms of inclusion vs. exclusion inscribed into digital infrastructures, keeping in mind for example the digital divide? To what extent can digital infrastructures be appropriated by social practices? And how is the usage of digital measures of communication and participation interlaced with categories like gender?
Also, against the background of digitalization, the concept of political action has to be considered anew. In this context above all the question of the possibility of political action arises. Does the latter mean a consumption of information and knowledge in digitalized form or the use of digital infrastructures in the sense of a culture technique, as a creative operation accompanied by the comprehension of the underlying structures which therefore can be seen as appropriation and subversive use? Does it come to the emergence of an “elite” of hackers or of persons capable of political action, on one side with passive consumers of the user interfaces of the web 2.0 on the other?

The conference aims to discuss these topics in an international and interdisciplinary exchange and therefore to contribute to a debate within the field which reflects the concepts, assumptions and theories relevant for the political dimension of the digital.