„Houston, wir haben ein Problem!“ – Das Gaming-Phänomen Among Us: Im Weltall hört dich niemand lügen (Transkript)

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Transkript vom Videobeitrag

Es ist das Jahr 2020, die ganze Welt ist befallen von einem tödlichen Virus. Chaos und Panik bricht aus. Doch eine kleine Gruppe von mutigen Astronaut*innen hat sich dazu bereit erklärt, die Welt von dem Eindringling zu befreien. Doch was, wenn der Eindringling sich unter uns befindet?

Die Rede ist hier von dem Spiel Among Us, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe. Ich wollte herausfinden, wie Akteur*innen durch das Spielen von Among Us mit der aktuellen Pandemiesituation umgehen. Am Beispiel des Computerspiels möchte ich aufzeigen, ob und welche Beziehung zwischen dem Spiel und der realen Krisensituation herrscht und wie sich diese im Spiel wiederfindet, beziehungsweise manifestiert. In einem Zeitraum von etwa drei Monaten habe ich dafür sechs Interviews mit unterschiedlichen Spieler*innen geführt, sowie teilnehmende Beobachtungen während des Spielens gemacht.

Doch first things first: Among Us ist ein online-multiplayer-Deduktions Spiel, das 2018 auf den Markt gekommen ist. Damals gab es jedoch nicht viele Interessent*innen für das Spiel. Erst während des Corona-Lockdowns im Sommer 2020 schaffte es seinen Durchbruch mit einem Spielerrekord von 500 Millionen aktiven Spieler*innen. Die Optik des Spiels ist simpel gehalten, überzeugt die Spieler*innen aber durch die niedlichen Astronaut*innen, die man ganz nach seinem Geschmack verändern kann. Among Us ist ein sogenanntes social deduction game. Es gibt zwei primäre Rollen, die man im Spiel einnehmen kann. Die eines Crewmitglieds, oder die eines Impostors, also eines Eindringlings. Ziel der Crewmitglieder ist es, eine bestimmte Anzahl von Aufgaben zu erledigen, sowie herauszufinden wer von den anderen Besatzungsmitgliedern der Impostor ist und diesen aus dem Verkehr zu ziehen. Die wichtigste Aufgabe des Impostors ist es nach und nach alle anderen Spieler*innen so unauffällig wie möglich zu töten. Das spannende an der Rolle des Impostors ist vor allem, dass die Voraussetzung für einen Sieg darin liegt, seine Mitspieler*innen überzeugend anzulügen. Dieser Aspekt macht Among Us zu einem ganz besonderen Erlebnis für seine Spieler*innen. Denn wo sonst hat man die Möglichkeit hemmungslos zu lügen, Intrigen zu spinnen und seine Gegner damit aufs Glatteis zu führen? Ich bezeichne das Spiel deshalb als die fleischgewordene, digitale Dystopie unserer Gesellschaft. Ihr glaubt mir nicht? Dann wartet mal ab.

Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Veränderungen unseres Alltags stellen die Ausgangssituation meiner Forschung dar. Meine Interviewpartner*innen befinden sich in einer echten Krisensituation, die scheinbar stabile Strukturen aufbricht (vgl. Poehls 2012: 7). Durch Regulierungen wie dem Social Distancing und Ausgangsbeschränkungen sind die Akteur*innen nicht nur in ihrem Bewegungsradius und ihrer sozialen Interaktion, sondern auch in ihrer Identitätsentwicklung extrem eingeschränkt. Die Betroffenen befinden sich in einem „Schwellenzustand“ oder auch Zustand der „Liminalität“ (Turner 1998: 251), wie der Anthropologe Victor Turner diesen bezeichnete. In solchen liminalen Zuständen wird Zeit, Identität und Gemeinschaft anders strukturiert und organisiert als im „echten Leben“. Die Pandemie versetzte viele Menschen für einen langen Zeitraum in einen solchen Schwellenzustand, in dem fortlaufende Prozesse, wie beispielsweise die Identitätsarbeit der Akteur*innen gehemmt wird und bei ihnen Unsicherheit auslöst (vgl. Augustin 2015: 132). Die Betroffenen werden dadurch vor neue Herausforderungen gestellt, die von bisher fixierten Gesetzen, Traditionen oder Konventionen abweichen (vgl. Turner 1998: 251), ähnlich wie in unserem fiktiven Raumschiff im Spiel Among Us. Wie kann man also aus dem Verhängnis den ganzen Tag Zuhause zu sein ausbrechen? Ganz klar, spielen!

Computerspiele wie Among Us erfüllen eine Reihe von wichtigen Funktionen, die für meine Forschungspartner*innen von großer Bedeutung sind. Ein besonderer Aspekt ist die „Performativität des Computerspielens“ (Butler 2007: 65). Der Begriff zielt „auf das Moment der Herstellung von Wirklichkeit im handelnden Vollzug“ (Bürkert 2020: 353) ab. Konkret bedeutet das, dass meine Interviewpartner*innen durch das Spielen von Among Us ihre soziale Wirklichkeit gestalten. Sie erleben in der Spielwelt direkte Kommunikation, in dem sie während der Krisenmeetings mit anderen interagieren, sie müssen sofort reagieren, wenn beispielsweise die Leiche von Mitspieler*innen gefunden wird und auch konstant auf der Hut vor möglichen Impostern sein, was einen großen Spannungsreiz bietet (vgl. Butler 2007: 79ff.). Somit kann das Spielen von Among Us als performative Praxis der Akteur*innen verstanden werden. Wichtig hierbei ist zum einen die „zeitkritische“ Interaktion der Spieler*innen (vgl. Butler 2007: 72), in dem beispielsweise innerhalb einer limitierten Zeit Aufgaben gelöst werden müssen. Zum anderen sind die Aufgaben, die von den Spieler*innen gelöst werden müssen, ebenfalls ein Punkt, der berücksichtigt werden muss. Among Us ist unter anderem so interessant für meine Interviewpartner*innen, weil es für unsere Astronaut*innen ein festgelegtes Handlungsfeld gibt und bestimmte, relativ einfache Regeln, die den Spieler*innen den Handlungsrahmen vorgeben (vgl. Rötzer 2007: 177). Wenn man beispielsweise als Crewmitglied, schon von dem Impostor getötet wurde, kann man seinem Team trotzdem noch zum Sieg verhelfen, indem man alle Aufgaben löst. Solche festgelegten Aufgaben können in Zeiten der Krise und durch den Verlust der Alltagsstrukturen ein Sicherheitsgefühl bei den Akteur*innen erzeugen (vgl. Rötzer 2007: 177) und gleichzeitig tritt das Zeitgefühl in den Hintergrund (vgl. Butler 2007: 79).

Doch was genau ist so toll daran, seine Mitspieler*innen der Reihe nach ins Jenseits zu befördern? Auch die körperlichen und materialisierten Praktiken spielen bei Among Us eine wichtige Rolle. Viele meiner Interviewpartner*innen berichteten von einer erhöhten Bereitschaft zu virtueller Gewalt, sowie einer starken körperlichen Reaktion auf In-Game Situationen, wie zum Beispiel dem Tod ihres Avatars (vgl. Butler 2007: 79). Eine Interviewpartnerin sagte beispielsweise:

„Oft ist das echt ein kurzer Schreckmoment für mich. Ich rege mich dann kurz darüber auf, weil ich oft ganz genau weiß, ich muss vorsichtiger sein, aber dann fällt auch irgendwie die Anspannung ab, weil man dann eh schon tot ist.“

Sarah (22 Jahre), Studentin und Among Us Spielerin

Dieses körperliche Empfinden der Akteur*innen bezeichnet Christoph Bareither als „embodiment relations“ (Bareither 2016: 111). Die Avatare in Among Us stellen simulierte virtuelle Körper der Spieler*innen dar, mit denen sie eine materialisierte Beziehung eingehen können, um so eine Verbindung zu ihrer virtuellen Umwelt aufbauen zu können. Dadurch wird der Avatar Bareither zufolge selbst zum Teil des Körpers der Spieler*innen. Mark Butler bezeichnet das Phänomen als „Aisthesis“ (Butler 2007: 78), eine Verschmelzung des Akteurs mit dem Computer. Folgt man Anne Dippel, kann sich die Unterscheidung zwischen Spiel und Realität im Digitalen auflösen, sodass „Interferenzen“ (Dippel 2016: 370) entstehen, „wechselseitige Überlagerung und damit einhergehende Zustandsveränderung von Interaktion, die weder rein als Spiel bezeichnet werden können, noch ganz Arbeit sind, wo beides beobachtbar wird“ (ebd.: 370). Das Spiel wird von meinen Forschungspartner*innen somit als besonders intensive, körperliche Erfahrung wahrgenommen. Schon Johan Huizinga sagte dazu: „Die Intensität des Spiels wird durch keine biologische Analyse erklärt, und gerade in dieser Intensität, in diesem Vermögen, toll zu machen, liegt sein Wesen, steckt das, was ihm ureigen ist.“ (Huizinga 1998: 11).

Doch Among Us lebt vor allem durch seine Interaktivität und den engen Austausch mit anderen, wodurch für die Spieler*innen ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. Der Kommunikationsaspekt spielt hierbei eine erhebliche Rolle. Denn die Krisenmeetings stellen die einzigen Situationen dar, in denen miteinander gesprochen werden darf. Die Krux bei jedem Meeting besteht darin, glaubwürdig auf die anderen Spieler*innen zu wirken und im besten Fall nicht aus der Runde geworfen zu werden. Dies führt bei den Beteiligten zu einem erhöhten Spieldruck und einem Adrenalinkick vor jeder Runde. Meine Forschungspartner*innen beschreiben diese auferlegten Regeln aber nicht als Restriktion, sondern im Gegenteil: das Spiel wird gerade dadurch erst so richtig spannend. Denn Among Us bietet den Akteur*innen viel mehr Freiheiten und Möglichkeiten zur Interaktion, als es während des Lockdowns der Fall ist. Denn im Spiel gelten die normalen Gesetze des gewöhnlichen Lebens nicht, sie sind außer Kraft gesetzt (vgl. Huizinga 1956: 21). Und gerade wenn das normale Leben von Restriktionen gekennzeichnet ist, bietet ein Spiel wie Among Us durch seine Beschaffenheit eine Chance, dem Alltag zu entfliehen.

Was in Among Us passiert, ist genau das, was uns in unserer Gesellschaft fehlt. In jeder Runde werden die Karten neu gemischt und die Spieler*innen erhalten eine neue Chance sich zu beweisen, selbst wenn sie dies als mordende Astronaut*innen tun. Somit werden auch die Machtverhältnisse in jeder Runde neu verteilt. Es existiert keine hegemoniale Machtstruktur da jede Spieler*in theoretisch jede Rolle einnehmen könnte und dadurch die Chancen für alle gleich sind. Diese Chancengleichheit, die das Spiel gewährt, ist zugleich die Utopie die sich dahinter verbirgt (vgl. Rötzer 2007: 177). Denn was dadurch entsteht, ist ein Wechselspiel aus Intrigen, Lügen und Vertrauen welches von den Akteur*innen als das Herzstück des Spiels angesehen wird. So erzählte mir einer meiner Interviewpartner:

„Wir sind auch in einer Welt, in der mega viel gelogen wird, […]

und das heißt Lügen ist auch ein Riesenfaktor in unserer Gesellschaft und das sind halt alles Dinge, die sich in dem Spiel wiederfinden.“

Markus (26 Jahre), Social-Media Manager und Among Us Spieler

Und genau das ist es, was Among Us so einzigartig macht, warum so viele Menschen es spielen, sogar absolute Gaming-Neulinge. Der Spaß, die Gemeinschaft und der Nervenkitzel im Spiel helfen den Akteur*innen, loszulassen und sich von den Ketten des pandemischen Alltags zu befreien. Also warum nicht einfach mal jemandem den Hals umdrehen und so tun, als hätte man rein gar nichts getan, man hat ja ohnehin nichts zu verlieren.


Eleonora Grammatikou

ist Journalistin und Masterstudentin der Transkulturellen Studien/Kulturanthropologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sie studierte Mehrsprachige Kommunikation im Bachelor an der Technischen Hochschule Köln und absolvierte im Anschluss ein Volontariat im Bereich Videojournalismus. Ihre Forschungsinteressen liegen bei: Alltagskultur, Museologie und Museumspraxis, Digitale Anthropologie, Jugend- und Populärkultur, Frauen- und Geschlechterforschung. Auf die Idee, im Bereich Digital Gaming zu forschen, kam die Autorin während des ersten Corona Lockdowns im Sommer 2020, als sie zum ersten Mal Among Us spielte und das Spiel sie nicht mehr losließ.


Quellen:

Alle Feldforschungsmaterialien wurden anonymisiert und liegen bei der Autorin.

  • Augustin, Elisabeth (2015): BlogLife. Zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs. transkript Verlag, Bielefeld.
  • Bareither, Christoph (2016): Gewalt im Computerspiel: Facetten eines Vergnügens. (Kultur und soziale Praxis). transcript Verlag, Bielefeld.
  • Bürkert, Karin (2020): Performativität. In: Heimerdinger, Timo; Tauschek, Markus: Kulturtheoretisch argumentieren. Ein Arbeitsbuch. Waxmann Verlag, Münster, New York, Münster, New York.
  • Butler, Mark (2007): Zur Performativität des Computerspielens. Erfahrende Beobachtung beim digitalen Nervenkitzel. In: Christian Holtorf, Claus Pias (Hrsg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar.
  • Dippel, Anne & Fizek, Sonia (2016): Ludifizierung von Kultur. Zur Bedeutung des Spiels in alltäglichen Praxen der digitalen Ära.
  • Huizinga, Johan (1991): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg.
  • Poehls, Kerstin (2012): Weniger Wollen. Alltagswelten im Kontext von Krise und Postwachstums-Debatte. In: Vokus 22/2: 5-18.
  • Rötzer, Florian (2007): Das Leben als Spiel. Konturen einer ludischen Gesellschaft. In: Christian Holtorf, Claus Pias (Hrsg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar.
  • Turner, Victor (1998): Liminalität und Communitas. In: Belliger, Andréa (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch., Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden.

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