Wie alles begann…
Deutschland. Meine erste teilnehmende Beobachtung auf einem der (Massen-)Gaming Events, die ich erforsche. Die Messehalle ist dunkel, rote Teppichläufer am Boden markieren die Wege. Die einzelnen Stände (Booths) sind mit bunten Strahlern beleuchtet, die verheißungsvoll mit den Augen der Besucher*innen um die Wette funkeln. Es liegt Aufregung und Abenteuer in der Luft. Aus verschiedenen Ecken dröhnt Musik. Auf einer kleinen Bühne eines Hardware-Herstellers animiert ein junger Mann einige Dutzend Menschen vor der Bühne zu springen, zu tanzen und auf sein Zeichen hin laut zu grölen. Ich mache ein Foto, als mich plötzlich ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Doom-Logo am Kopf trifft
Interlude:
Mit Karen Barad (1996:179) stelle ich die Frage, wie sich, im Sinne eines Agentischen Realismus, Wissensansprüche in lokalen Erfahrungen verkörpern. Diese Geschichte widmet sich einer Situation, einem Phänomen im Sinne Barads, in dem sich die Verschränkungen und die Untrennbarkeit von ‚Objekt‘ und ‚Apparatur‘ (in diesem Fall ein Feldforschungssetting) zeigen. Dies ist der Beginn einer Geschichte, von den ersten Minuten in meinem Forschungsfeld, von einem Doom-T-Shirt und davon, wie die Falte einer Raumzeitmaterialisierung mit allem zusammenhängt.
Was dann geschah…
Ein Shirt geht unter die Haut
Das T-Shirt ist das erste von unzähligen, die ich im Laufe meiner Feldforschung sammle. Neben anderen kleineren Gegenständen und ‚Goodies‘ erhält man sie häufig als ‚Loot‘ (engl. für Beute, in Anlehnung an Belohnungen in Computerspielen), als Belohnung für besonders aktive Partizipation, meist, wie hier, in Form von körperlicher Bewegung oder kleinen Wettbewerben. Neben dem Moderator steht ein Tätowierer auf der Bühne, der Freiwilligen Temporary Tattos eines Markenlogos verpasst. Der Clou daran: Es muss in das Gesicht. Zwei Teenager neben mir, einer trägt das Logo auf der Stirn, einer auf der Wange, sprechen euphorisch davon, wie cool es sei, dass dadurch ihre Zuneigung zu der Marke deutlich wird. Beide hoffen, bei der Verlosung, die unter all jenen stattfindet, die am Ende des mehrtägigen Events das Tattoo noch tragen, eine Gaming-Tastatur zur gewinnen. Die besondere Bedeutung von Hardware wird hier deutlich, die sich nicht nur auf leistungsstarke Grafikkarten beschränkt, sondern eben auch Peripherie-Geräte wie Mäuse oder Tastaturen umfasst. Die verschiedenen Hardware-Hersteller versuchen durch Slogans und Werbegeschenke die ausgeprägte Fanbase unter den Besucher*innen zu erweitern und verstärken. Dabei wird diskursiv oft eine ‚Community‘ angerufen, die im Feld des Computerspielens aus einer Gemeinschaft von Produzent*innen, Verkäufer*innen und Konsument*innen imaginiert wird. Die Hardwaregeräte selbst sind klassischer Weise in schwarz gehalten, mit bunten LEDs, die in allen Regenbogen-Farben erstrahlen. Gaming Events greifen diese visuelle Ästhetik auf, indem genau solche Hardware ausgestellt wird, aus verschiedenen Hardware-Elementen Skulpturen und Bilder gebaut werden, und – wie die Eingangsszene beschrieb – in der räumlichen Ausgestaltung der Veranstaltungsräume selbst.
Ein Shirt unter Seinesgleichen
Geblendet von den hellen Laser-Lichtern der Bühne, fällt das T-Shirt von meinem Kopf direkt auf den Boden vor mir. Ein schmächtiger junger Mann vor mir bückt sich, um es mir zu geben. Er zeigt auf eine riesige Tüte neben ihm, mit der Aufschrift „Einfach mal [das Gaming Event] plündern“. Sie ist bis zum Rand mit Shirts und anderem ‚Loot‘ gefüllt. Er kommentiert, er habe ja schon ein paar Shirts gesammelt. Wir kommen kurz ins Gespräch. Er ist allein hier, weil er in der Nähe wohnt und keiner seiner Freunde Zeit hatte. Mit stotternder Stimme und dem Blick auf den Boden gerichtet, erzählt er mir auf meine neugierigen Fragen hin von seiner Angst vor Menschen und Panikattacken, die er durch den Besuch auf einem solchen Massenevent überwinden möchte. Diese Art von ‚Selbsttherapie‘ psychischer Schwierigkeiten begegnet mir in Folge noch häufiger im Rahmen der Events. Möglich wird das durch die Imagination, von Freund*innen und Gleichgesinnten umgeben zu sein. Eine wohlwollende Community, in der sich viele hier, anders als in ihrem Alltag, nicht als Gamer*in stigmatisiert und ausgegrenzt fühlen. Zwischen all den ausgestellten Spielen, nachgebauten Computerspiel-Waffen und Panzern, die als vertraute Elemente von geliebten Spielen wiedererkannt werden, stellt sich für viele das Gefühl von Geborgenheit ein. Auch die involvierten Veranstalter und Konzerne wissen davon, wie ein riesiges Plakat über dem Eingang zeigt. Es trägt die Aufschrift „Willkommen Zuhause Gamer!“
Ein Shirt findet ein Zuhause
Das T-Shirt ist gefaltet und in Plastikfolie eingepackt. Diese Plastikfolien bedecken nach dem Ende der Events zusammen mit glitzernden Konfettis, Luftschlangen, oder ‚gelooteten‘ Gegenständen die zurückbleiben die Böden der Hallen. Ein Müllberg, der stumm auf die Aktivitäten der vergangenen Tage verweist. Er erzählt aber auch von einem Konsum, bei dem das ‚Bekommen‘ im Zentrum steht, nicht das ‚Benötigen‘. Was für eine Person ein Andenken an das Abenteuer Gaming Event darstellt, ist für die andere nutzloser und ungewollter Schrott. Abends befreie ich das T-Shirt von seiner Plastikfolie in meiner temporären Unterkunft bei Freunden. Nachdem ich der Aufforderung es anzuprobieren nachkomme, bricht Belustigung aus: das Shirt in Größe L kann von mir auch als Kleid getragen werden. Tatsächlich passiert es nicht nur mir, dass erhaltene Shirts oder anderer Loot nicht passen. Schon während der Events gibt es Discord-Server (Discord = Chat-Programm für Gaming), Whatsapp-Gruppen und Internet-Foren, in denen Besucher*innen erhaltenen Loot in unpassenden Größen zum Kauf oder Tausch anbieten. Auch auf den Events gibt es tägliche Tauschbörsen, bei denen Besucher*innen mit dem erhaltenen ‚Loot‘ handeln. Dabei wird der Wert sehr unterschiedlich bemessen. Viele Shirts werden in limitierter Edition nur für ein spezifisches Event produziert und erzielen auch in Online-Gebrauchtmärkten hohe Preise aufgrund ihrer Exklusivität. Als ich nach einigen Tagen zurück nach Hause fahre, erblasst mein WG-Kollege vor Neid. Er ist großer Doom-Fan und versucht sofort, mir das T-Shirt abzuknöpfen. Wenige Tage später, besorgt er sich das neue Doom-Spiel, ein Reboot des Kult-Shooters. Und weil das Spielen auf seinem alten Laptop nicht das erhoffte Erlebnis bringt, folgt wenige Wochen später auch ein neuer Gaming-PC, für den wir tage- und nächtelang an der idealen Hardware-Komponenten-Zusammenstellung basteln.
Epilog:
Nach mehr als 850 Stunden, oder 60 Tagen, die ich ethnografisch forschend auf Gaming Events in verschiedenen europäischen Ländern verbrachte, kehre ich mit dieser Geschichte wieder ganz an den Beginn zurück. Es ist der Anfang eines Abenteuers, dass einer kurzen Situation folgt und versucht, den Verschränkungen diskursiv-materiell verkörperter Elemente zu folgen. „Verschränkungen sind Einfaltungen von Raumzeitmaterialisierungen“ meint Barad. Und manchmal beginnt mit einer kleinen Falte ein großes Abenteuer.
Anmerkung: Die hervorgehobenen Begriffe sind Knotenpunkte eines Rhizoms, deren Geschichte ein andermal erzählt wird.
Literatur:
Barad, Karen (1996): Meeting the Universe Halfway: Realism and Social Constructivism without Contradiction. In: Nelson, Lynn Hankinson; Nelson, Jack (Hg.): Feminism, Science, and the Philosophy of Science. Dordrecht/ Boston/ London, S. 161–194.
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