Algorithmus der Liebe. Online-Dating-Praktiken im Alltag (Transkript)

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„Ich würde sagen, es ist ein bisschen wie im Supermarkt. Du suchst dir aus, wen du in deinen Einkaufswagen setzen möchtest, also was du kaufen möchtest (lacht). […] Und das sind aber keine Lebensmittel, sondern das sind Menschen und mit dem Kauf sagst du quasi, dass du Interesse an Interaktionen hast […].“

B4: Mona

Dieses Zitat stammt von einer Dating-App Nutzerin, nennen wir sie Mona. Ich hatte Mona darum gebeten mir eine Dating-App so einfach wie möglich zu beschreiben, so als müsste sie ihrer Oma erklären, was das überhaupt ist. Mona ist Mitte Zwanzig, begreift sich selbst als heterosexuelle Frau und ist Hochschulabsolventin. Wie viele in ihrem Bekanntenkreis benutzt sie Dating-Apps wie Bumble, um neue Bekanntschaften zu knüpfen. Meistens entstehen daraus nette Begegnungen, manchmal ein unverbindlicher One-Night-Stand und ab und zu ein zweites oder drittes Date. Sie weiß wonach sie nicht sucht und kann nicht genau benennen, was sie sucht, aber sie ist auf der Suche. Eine Beziehung käme für sie zurzeit nicht in Frage. Dafür genießt sie zu sehr ihre Freiheit und ihr Single-Dasein. Sollte es jedoch passieren, dieser mythische Moment der romantischen Begegnung zweier Fremder, der vergessen lässt, dass man ja eigentlich nicht nach etwas Verbindlichem aus ist, dann wäre sie dem auch nicht abgeneigt. Ihr Motto lautet: wenn es funkt, dann funkt es. Und wenn nicht, dann ist das auch ok. Oft und gerade jetzt in der Corona-Pandemie nutzt sie Bumble meist, um Profile auf ihrem Bildschirm zu swipen. Ja fast schon wie ein Spiel fühlt es sich an, wenn sie die Profile nach rechts oder nach links wischen kann. Manchmal ist sie aber auch müde von diesem Glücksspiel. Dann löscht sie die App, um sie einige Wochen später wieder herunterzuladen.

Die fiktive Beschreibung von Mona ist mein Einstieg, um das Feld der Dating-Apps kulturanthropologisch zu beleuchten. Monas Erfahrungen können exemplarisch für die Dating-Kultur der Spätmoderne stehen, die ich im Laufe meiner ethnografischen Forschung zu mobilen Dating-Apps analysieren durfte. Ihre Geschichte repräsentiert jedoch nicht die heterogenen und subjektiven Erfahrungen meiner insgesamt 8 Gesprächspartner*innen. Den Startschuss meiner Forschung setzte die Erstellung eines eigenen Bumble Accounts vor etwa 6 Monaten. Vier Tage später wurde dieser blockiert, aber das ist eine andere Geschichte… Ein schließlich erfolgreicher zweiter Versuch, viele Gespräche und Autoethnographien später, sitze ich hier, um einen Teil meiner Ergebnisse mit euch zu teilen. Welche kulturelle Bedeutung von Liebe und Intimität steckt in der standortbasierten Kontaktvermittlung und was bedeutet das für digitale Dating-Praktiken von Akteur*innen? Riskierend, dass ich hiermit endgültig die Illusion eines hinter dem Handy Bildschirm versteckten Mini-Amors mit Liebespfeil zerstöre, gehe ich diesen Fragen auf den Grund und zerlege die Dating-App Bumble in ihre Einzelteile. Neben technischen Funktionen, digitalen Infrastrukturen und Algorithmen setze ich meinen Fokus vor allem auf Dating-Praktiken von Bumble-Nutzer*innen. Wie daten wir im Jahr 2021? Die Umstände des pandemischen Alltags ermöglichten mir zeitgleich einen Ausschnitt der Dating-Kultur im Moment der Krise zu beobachten. Fernab von Technikpessimismus und Technikoptimismus möchte ich ein Bild zeichnen, das Herausforderungen und Möglichkeiten des digitalen Datings und daraus entstehender Praxen aufzeigt.

Der Soziologin Eva Illouz folgend, gehe ich von dem Standpunkt aus, dass subjektive Erfahrungen, gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln und verstärken können und somit auch konkrete, verkörperte und gelebte Strukturen sind (vgl. Illouz 2018: 15). Dabei möchte ich digitale Technologien nicht nur als Teil von sondern selbst als Kultur verstehen – zusammengesetzt aus kollektiven, menschlichen Praktiken und eingebettet in sozio-technische Prozesse (vgl. Seaver 2017: 5).

Bumble who?

In meiner Forschung habe ich mich auf Bumble fokussiert, eine US-amerikanische Dating-App gegründet im Jahr 2014 von der Ex-Tinder-Mitbegründerin Whitney Wolfe Herd – ihr habt richtig gehört, die große Konkurrenz Tinder, aber auch das ist eine andere Geschichte. Mit weltweit rund 100 Millionen Nutzer*innen ist Bumble ein relevanter Player auf dem Dating-App Markt. Basierend auf dem sogenannten „freemium“ Modell bietet Bumble eine kostenlose Basis-Version, die ganz nach dem Gaming Motto „pay to win“ – also Vorteile erkaufen, um zu gewinnen – auch kostenpflichtig erweitert werden kann. Bumble wirbt explizit mit einem Image als „feministische“ App: Das Grundprinzip ist der scheinbare „Rollentausch“ im heterosexuellen Dating, der Frauen die Entscheidungsmacht über die erste Kontaktaufnahme verschafft und Männern diese wiederum unterbindet. Ähnlich wie in anderen Dating-Apps beruht der Bewertungsprozess von visuellen Profilen auf dem Prinzip des „Swipens“: mit einem Wisch über den Display entscheiden Bumble User, ob sie eine andere Person kennenlernen möchten, oder nicht. Erst wenn sich Nutzer*innen gegenseitig liken entsteht ein sogenanntes Match, das die nächste Phase der Interaktion und damit die Kontaktaufnahme von Seiten der Frau im Chat ermöglicht. Bumble richtet sich vorwiegend an ein hetero- und cis-normatives Publikum. Auch wenn geschlechtliche und sexuelle Vielfalt bei der Registrierung sichtbar und auswählbar werden, zeigt sich im Grundprinzip des Rollentausches, dass vor allem heterosexuelle Dating-Partner*innen angesprochen werden sollen.

Der uns vertrauten Online-Dating-Kultur geht ein modernes Verständnis von Liebe und Romantik voraus: Das Individuum ist frei und autonom in seinen bzw. ihren emotionalen Entscheidungen, wenn es darum geht intime Beziehungen jeglicher Art einzugehen. Soziale Institutionen, kirchliche oder staatliche Autoritäten haben nach diesem Verständnis keinen direkten Einfluss mehr auf das individuelle Liebesleben (vgl. Illouz 2018: 17ff.). Für die digitale Welt des 21. Jahrhunderts ist das Streben nach Authentizität und visuellen Reizen elementar: Soziale Medien und Online-Dating-Plattformen appellieren zur authentischen Selbstdarstellung, was laut der Philosophin Jule Govrin symptomatisch für die spätkapitalistische Subjektivierungsweise zu sein scheint (vgl. Govrin 2019: 184). Nutzer*innen formen ihre eigenen, virtuellen Identitäten und lernen, diese möglichst authentisch in Szene zu setzen, um von anderen Nutzer*innen wiederum identifiziert und kategorisiert zu werden. Die Studentin Mila erklärt im Interview:

„Man schreibt Sachen rein, um lustig zu klingen, um abenteuerlich zu klingen, um irgendwie sich besonders zu machen. […] Aber vor allem, dass man irgendwie versucht, sich auf dem ersten Blick gut darzustellen. Was ja im echten Leben manchmal gar nicht so ist.“

B5: Mila, Studentin

Einerseits ist das visuelle Selbst durch dieser Art der Selbstdarstellung nach Eva Illouz zu einer „gnadenlos idealisierten Form“ geworden (Illouz 2018: 173). Andererseits fragt Govrin danach, ob eine Dating-App nicht auch einen heterotopen Raum bieten kann, „in dem Nutzer*innen Identitätsgrenzen überwinden und sich frei entfalten können“ (Govrin 2019: 185). Auch Bumble bewegt User dazu, auf ihrem Profil ein möglichst authentisches Narrativ der eigenen Person zu schaffen, um erfolgreich zu Daten. Dabei gilt: je spezifischer die Profilangaben und Bilder, desto individueller, desto erfolgreicher.

Nach der Identifizierung und Einordnung folgt die Bewertung der angezeigten Profile und die erste Kontaktaufnahme. Technische Features wie die Swipe-Logik oder die zeitlich limitierte erste Kontaktaufnahme im Chat sind Teil programmierter Infrastrukturen von Bumble. Darunter fallen im Hintergrund ablaufende Netzwerkverbindungen, Datenströme, sowie das User Interface Design und Plattformlogiken. Für die meisten Nutzer*innen bleiben diese Strukturen verborgen, sie operieren mit dem, was auf ihrer Benutzeroberfläche zu sehen ist und ihnen zur Verfügung gestellt wird. Das Wischen nach links, rechts oder nach oben ist ein wesentlicher Bestandteil der Infrastruktur des visuellen Bewertungsprozesses von Bumble. Diese Swipe-Logik ermöglicht den Usern vorgeschlagene Profile, das heißt Fotos und Profilangaben wie Hobbies und religiöse oder politische Einstellung, in kürzester Zeit zu scannen und binnen Sekunden ein Bewertungsurteil zu fällen. Damit schließt dieser technische Rahmen zur selben Zeit andere Formen der Bewertung aus. Es gibt nur ein Ja oder Nein. Ist die Entscheidung gefällt, gibt es auch kein Zurück mehr – zumindest nicht in der kostenlosen Version. Diese binäre Klassifikation lässt kein „dazwischen“ zu (Illouz 2018: 170). Eine Person ist entweder attraktiv oder nicht (ebd.). Sie führt dazu, dass wir die angezeigten Profile und die Menschen dahinter auf Standbilder und Schnappschüsse einer Momentaufnahme reduzieren (vgl. Illouz 2018: 171). Wenn eine Interviewpartnerin etwa davon berichten, dass ihre Wertzuschreibung im real-life anders ausfallen würde als auf der App, dann spielt auch hier der begrenzte Rahmen der Bewertung eine Rolle in der Praxis von Nutzer*innen:

„Ich glaube, man macht sich so’n Wunschvorbild, von dem was man glaubt, was sein Typ ist. Also ich glaube, ich gehe durch die Dating-App und (…) suche mir die Menschen raus, die andere auch attraktiv finden würden, aber die ich eigentlich gar nicht attraktiv finde. Ich glaube im (…) echten Leben wäre ich bei ganz anderen Typen aufgeregt, als die ich da in meiner App sammle […].“

B2: Nuria, Studentin

Die Bewertungsinfrastruktur ist darauf ausgelegt, schnelle Entscheidungen zu treffen und damit auch sozial und kulturell erlernte Ideale und Normen von „schön“ und „attraktiv“ zu folgen. Trotz dessen, dass die Bewertung ohne Publikum stattfindet, fällt die Wahl der meisten meiner Interviewpartner*innen auf ein gesellschaftlich geprägtes Bild von „Schönheit“. Hier können auch diskriminierende und rassifizierende Strukturen reproduziert werden, die einen bestimmten „Typen“ bevorzugen, welcher beispielsweise in einer mehrheitlich weißen, heterosexuellen Gesellschaft privilegiert wird.

Zeitlimit im Dating-Game

Ein Wischen mit dem Finger über den Bildschirm spart Zeit und Zeit effektiv zu nutzen ist auch im Zeitlimit von 24 Stunden für die erste Kontaktaufnahme eingeschrieben. Dieses beeinflusst und bringt spezifische Praktiken des Online-Datings hervor. Beispielsweise verhindert das Zeitlimit eine Ansammlung von bereits erfolgreich vernetzten Matches und bewegt zur zügigen Kontaktaufnahme im Chat, bevor das Match aufgelöst wird. Auch dieser technischen Voraussetzung können Nutzer*innen nur beschränkt umgehen, indem sie etwa das Match verlängern. Luisa erklärt im Interview:

„Also du hast als Mann, einmal am Tag, kriegst du so einen Freiwurf, […] und dann siehst du, dass er das verlängert hat, damit du ihn 24h länger anschreiben kannst. […] Und das find ich ganz cool und tatsächlich manchmal denk ich so, na, wenn er wirklich will, dann macht der das für mich.“

B3: Luisa, Absolventin

Die Möglichkeit das Match zu verlängern ist limitiert. Die Verlängerung kommuniziert für Luisa ein „nachdrückliches“ Interesse, das auf Bumble für männliche Nutzer nicht über den Chat kommunizierbar ist. Hier wird die traditionelle Rolle des Mannes als „Erobernder“ bzw. als initiierter Part als wünschenswert angesehen.

Algorithmen der Liebe?

Nicht nur die individuelle Selektion innerhalb der vorgegebenen Rahmen und auf Grundlage der Infrastruktur entscheidet darüber, welches Profil für den oder die Nutzer*in als attraktiv oder als unattraktiv bewertet wird. Bekannt ist, dass Dating-Apps algorithmische Systeme verwenden, um ein relevantes Matchmaking zu ermöglichen (vgl. u.a. Peetz 2021; Seaver 2019). Ebenso bekannt ist, dass der Code algorithmischer Systeme für outsider und somit auch für Nutzer*innen eine black-box darstellt (ebd). Der Anthropologe Nick Seaver begreift Algorithmen als dynamische und stetig wandelbare sozio-technischen Systeme zwischen Mensch und Code, eingebettet in soziale Strukturen und kulturellen Bedeutungen (vgl. Seaver 2019: 419). Anja Breljak und Rainer Mühlhof beschreiben es als plurales Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten welches von technischen Gegebenheiten koordiniert und gerahmt wird, ohne jedoch durch diese festgelegt zu sein (vgl. Breljak und Mühlhoff 2019: 18). Wenn etwa Gesprächspartner*innen auffällt, dass sich die „Qualität“ der angezeigten Profile je nach Nutzungsverhalten verändern wie bei Luisa:

„Ähm und man merkt auch glaube ich, wenn man länger nicht mehr reingeguckt hat, hast du wieder bessere Vorschläge […].“

B3: Luisa, Absolventin

oder, dass man selbst in Kategorien eingeordnet wird, wie Phil erklärt:

Ich habe immer so gedacht, dass man schon so ein bisschen einkategorisiert wird, so, dass jetzt irgendwie zum Beispiel (…) hübsche Frauen und Männer werden auch eher hübsche Frauen und Männern angezeigt.“

B8: Phil, IT-Berater

Dann macht sich die „Arbeit“ programmierter Algorithmen bemerkbar.

Algorithmische Systeme beobachten also kontinuierlich bewertende und bewertete Bumble Nutzer*innen sowie ihr Bewertungsoperationen auf der App (vgl. Peetz 2021: 12). Das Datenmaterial liefern die Kontaktsuchenden selbst aus den Profilangaben und Filtereinstellungen, aber auch die Verknüpfung mit anderen sozialen Netzwerken wie Instagram, Facebook oder Spotify sowie Aktivitäten auf der App liefern relevante Daten für die anschließende Kategorisierung und Selektion von Profilen. Laut dem Soziologen Thorsten Peetz ermöglicht die Beobachtung durch Algorithmen also eine Vorselektion und damit einen „personalisierten Raum“, in dem Nutzer*innen ihre individuelle Bewertung abgeben können (Peetz 2021: 12). Bumble gibt keine offiziellen Informationen dazu, wie genau ihr algorithmisches Matchmaking funktioniert. Die auf Bumble veröffentlichten Tipps für ein erfolgreiches Dating, wie die Auswahl qualitativ hochwertiger Fotos und viele persönliche Informationen im Profil, lassen darauf schließen, dass diese Daten auch für das algorithmische System vorgesehen sind. Zu Fragen wäre hierbei auch, wie exkludierend Dating-Apps sind und welche Personen durch die mathematische Vorselektion sichtbar oder unsichtbar gemacht werden.

Konsum im Dating-Supermarkt ?

Neben der Schnelligkeit verdeutlicht auch das Zeitlimit für die erste Interaktion die ökonomischen und rationalen Aspekte von Dating-Apps. Auch die Supermarkt-Analogie zu Beginn meines Beitrags, zeigt die Verschränkung von Konsumkultur und der Suche nach intimen Beziehungen. Laut Eva Illouz werden Personen hinter den Profilen in konsumierte Bilder und Profile verwandelt – die wiederum von anderen Personen konsumiert werden (vgl. Illouz 2018: 170). Ähnlich wie im Supermarkt haben Nutzer*innen die Möglichkeit, aus einer Vielzahl von Profilen auszusuchen und zu konsumieren. Doch könnte man diese Analogie auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Dating-Apps minimieren die Hürden für Kontaktsuchende und ermöglichen eine niedrigschwellige Plattform. Außerdem bieten sie eine größere Auswahl an potenziellen Kontakten und fördern die selbstbestimmte Suche nach intimen Beziehungen, wie Mila im Interview betont:

„Ich würde […] sagen, dass es ein Weg ist, um Menschen gefiltert kennenzulernen. Also eine Möglichkeit gefiltert kennenzulernen und schon Grundsätze, die man für sich selbst festgelegt hat, wenn man sie denn weiß, wie zum Beispiel eine politische Orientierung, oder auch nach was suche ich (…). Dass es eine Möglichkeit ist für Menschen, die vielleicht im realen Leben nicht so selbstbewusst sind, jemanden anzusprechen, damit eine Möglichkeit haben, sich auf dem ersten Blick zu präsentieren, wie sie das gerne möchten. Und dann aber selbst entscheiden können, mit wem sie Kontakt haben wollen und mit wem nicht […].“

B5: Mila, Studentin

Dating-Apps ermöglichen also ein rationales Kalkulieren und Selektieren von Profilen bevor ein physisches, intuitives Treffen zustande kommt (vgl. Illouz und Finkelman 2009: 418). Einige meiner Gesprächspartner*innen beschreiben diese Art des Kennenlernens als „unnatürlich“, da sie nicht im Rahmen einer spontanen und intuitiven Begegnung stattfindet. Der emotionale Gemütszustand und die momentane Lebenssituation spielen eine Rolle, wenn Nutzer*innen die App phasenweise löschen und wieder herunterladen. Ein Kreislauf, der charakteristisch für digitale Dating-Praktiken ist. Das Entfernen der Dating-App vom Handy Screen bedeutet oftmals jedoch nicht, dass der Account endgültig gelöscht wird.

„Ich sag mal so ich hab’s auch zwischendurch (lachend) immer mal wieder gelöscht. Sicherlich immer so dieses ‚ach jetzt doch keine Lust mehr‘ und dann löscht du alles, weil du irgendwie vielleicht auch nicht gerade online sein willst und du denkst ‚ich will jetzt auch mal nicht gesehen werden‘ […]. Und jetzt hab ich’s aber schon bestimmt wieder, weiß ich nicht, zwei, drei Monate (…).“

B3: Luisa, Absolventin

Diese Art der Distanzierung zeigt sich auch in der häufig vorkommenden Praxis des Stummschaltens bzw. Priorisierens von Apps auf dem Smartphone. Nutzer*innen schalten Push-Benachrichtigungen aus oder verschieben das Icon in bestimmte Ordner, um die Kontrolle über ihre Interaktion mit der App und damit eine (emotionale) Distanz zu bewahren. Luisa erklärt:

„Ich will selbst entscheiden, wann ich diese App aufmache und nicht weil jetzt gerade jemand mich geliked hat und ich sage „oh warte wer ist das denn“. Nee, also das soll schon noch meine Entscheidung bleiben. […] Ist auch nicht auf dem Bildschirm, ich habe einen Bildschirm mit wichtigen Apps, die ich jeden Tag gucke und einen Bildschirm mit (…) so fun und so, und da ist die in dem fun-Ordner mit drin, die App (…) ja.“

B3: Luisa, Absolventin

Rationale und emotionale Entscheidungen gegen die App machen sich vor allem auch im pandemischen Alltag bemerkbar, wenn die Vorzüge einer digitalen Plattform nur beschränkt zu genießen sind. Denn gerade in dieser Krisensituation wird die hybride Praxis der Dating-Apps sichtbar: sie besteht aus der Interaktion zweier Personen, die sich im virtuellen Raum kennenlernen und sich nach einiger Zeit im physischen Raum begegnen. Fällt letzteres durch Corona bedingte Einschränkungen weg, wird der eigentliche Nutzen der App oftmals in Frage gestellt. Nuria erklärt:

„Weil (…) dadurch, dass grade die Pandemie ist oder gerade so ein extremer Lockdown ist, ich das Gefühl habe, dadurch dass ich mich eh mit niemandem treffen kann und ich auch dieses einfache grundlose hin- und her schreiben sehr langweilig finde, bringt mir die App gerade nix.“

B3: Nuria, Studentin

Bumble reagiert agil auf die neuen pandemischen Umstände und schreibt neu ausgehandelte Werte und Normen des Datings in Corona Zeiten auch in die App ein. Nutzer*innen bekommen die Möglichkeit ihre persönlichen Covid-Dating-Präferenzen in ihrem Profil anzugeben und im Voraus zu kommunizieren, wie sie in Zeiten von Corona daten möchten. Auch hier zeigt sich die soziokulturelle Aushandlung aktueller Umstände in der App und ihre flexible Anpassbarkeit. Hier ist nicht nur der Inhalt der App durch äußere Einflüsse bestimmt, sondern das Manifestieren der Corona-Konformen Regeln bestimmt zeitgleich die Dating-Praktiken der Nutzer*innen mit. Luisa erklärt:

„Da kannst du eben auch angeben, ob du offen bist dafür, Corona-konforme Spaziergänge zu machen oder ob du irgendwie sagst so, gerade eh nicht. Da ist dann auch so ein Button da, ähm deswegen, da steht bei vielen find ich so Corona-mäßig, wir können spazieren gehen.“

B3: Luisa, Absolventin

Fazit

Was zeigt euch meine ethnografische Forschung? Dating-Apps wie Bumble sind ein wesentlicher Bestandteil unserer technologisierten und mediatisierten Dating-Kultur. Sie sind auch nicht mehr wegzudenken aus dem Alltag vieler Menschen. Und zu verstehen, wie kulturelle Bedeutung von Liebe und Intimität in Apps ausgehandelt und wie digitale Dating-Praktiken entstehen und bedingt werden, heißt auch zu verstehen, in welchen sozio-technischen Kontexten Technologien entwickelt werden. Programmierte Gegebenheiten wie das User Interface, Software-Infrastrukturen oder algorithmische Systeme in einer App beeinflussen in besonderer Weise Dynamiken der Dating-Praktiken. Jedoch sind die technischen Gegebenheiten nicht als geschlossene Einheit zu verstehen, sondern als dynamisches und veränderbares Zusammenspiel aus Menschen und Code, das in sozio-kulturelle Prozesse eingebettet ist. Eine Dating-App ist kein wertfreier digitaler Raum, abgekoppelt von gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Werten und Normen. Auch hier werden gesellschaftliche Machtverhältnisse rassifizierter, patriarchaler und heteronormativer Art reproduziert. Doch kann eine Dating-App Menschen einen selbstbestimmten Zugang zu Liebe und Intimität gewähren und Sichtbarkeit und Sicherheit für marginalisierte Personen schaffen. Es zeigt sich, mobile Dating-Apps prägen ungemein die Art und Weise, wie wir intime Beziehungen im digitalen Zeitalter eingehen. Es entstehen spezifische Praktiken und „Regeln“, die im offline Dating „anders“ funktionieren. Anders kann auch neue Handlungsmöglichkeiten und Veränderung bedeuten. Ich möchte abschließen mit einem Zitat von Şeyda Kurt (2021) sie ist Autorin und Journalistin und hat in diesem Jahr ihr erstes Buch herausgebracht Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist. Zum Thema Dating-Apps schreibt sie, ich zitiere:

„Und wenn ich beginne, die romantische Liebe nicht als Natur des Menschen zu begreifen, akzeptiere ich, dass sie menschengemacht ist, eine soziale Technologie, die dementsprechend anpassbar und transformierbar ist. Und das eröffnet mir Handlungsräume.“

(Şeyda Kurt 2021: 181)


Amanda Umutesi Negele

ist geboren und aufgewachsen in Tübingen und seit 2019 Masterstudentin der Transkulturellen Studien/Kulturanthropologie an der Uni Bonn. Neben ihrem Studium arbeitet sie in einem Verein für junge afrikanische und andere Diaspora. Die Forschung zu moderner Liebe und Dating-Apps vereint ihre Begeisterung für popkulturelle, feministische & postkoloniale Themen.


Quellen

Alle Feldforschungsmaterialien (erhoben im Frühjahr 2021) wurden anonymisiert und liegen bei der Autorin. Die Zitate im Podcast sind nachgesprochene Aufnahmen.

  • Breljak, Anja; Mühlhoff, Rainer (2019): Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? Einleitung. In: Rainer Mühlhoff, Anja Breljak und Jan Slaby (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft. 1. Auflage. Bielefeld: transcript (Digitale Gesellschaft, 22), S. 7–36.
  • Burkart, Günter (2018): Soziologie der Paarbeziehung. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS (Studientexte zur Soziologie). Online verfügbar.
  • Govrin, Jule (2019): More Substance Than a Selfie? In: Affekt Macht Netz, S. 183–202. Online verfügbar.
  • Illouz, Eva (2018): Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Unter Mitarbeit von Michael Adrian. 1. Auflage. Berlin: Suhrkamp.
  • Illouz, Eva; Finkelman, Shoshannah (2009): An odd and inseparable couple. Emotion and rationality in partner selection. In: Theor Soc 38 (4), S. 401–422. DOI: 10.1007/s11186-009-9085-5.
  • Koch, Gertraud (2017): Ethnografie digitaler Infrastrukturen. In: Gertraud Koch (Hg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung. Köln: Herbert von Halem Verlag, S. 107–126.
  • Kurt, Şeyda (2021): Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. 1. Auflage. Originalausgabe. Hamburg: Haper Collins Verlag.
  • Peetz, Thorsten (2021): Digitalisierte intime Bewertung. In: Köln Z Soziol, S. 1–26. DOI: 10.1007/s11577-021-00754-y.
  • Seaver, Nick (2017): Algorithms as culture. Some tactics for the ethnography of algorithmic systems. In: Big Data & Society 4 (2), 205395171773810. DOI: 10.1177/2053951717738104.
  • Seaver, Nick (2019): Knowing Algorithms. In: Janet Vertesi und David Ribes (Hg.): DigitalSTS. A field guide for science & technology studies: Princeton University Press, S. 412–422.
  • Business of Apps. (2021). Anzahl der bei Bumble registrierten Nutzer in den Jahren 2015 bis 2020 (in Millionen). Statista. Statista GmbH. Zugriff: 30. Juni 202

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