Was tun wenn die Katze verschwunden ist? Wem werden noch die Schuhe vom Balkon geklaut? Auf digitalen Nachbarschaftsplattformen können schnell viele Menschen erreicht werden. Viele Augenpaare finden die Katze schneller wieder. Und Schuhe fehlen auch woanders im Viertel. Wer hätte so schnell herausgefunden, dass es der Fuchs war?
Viele Onlineplattformen charakterisieren sich dadurch, dass kein konkreter räumlicher Bezug zu dem was digital ausgehandelt wird, besteht. Dazu gehören zum Beispiel Computer- und Videospiele oder Chatforen, bei denen der*die Nutzer*in mit anderen Menschen in Kontakt tritt, die auch in einer anderen Stadt oder auf einem anderen Kontinent leben können. Mit dezentralen Vernetzungsfunktionen können Menschen Informationen und Gegenstände austauschen oder Aktionen und Teffen planen und umsetzen und diese zu einer Routine machen. Doch bei all den positiven Beispielen sind nicht nur die Plattformen ausschlaggebend. Auch lokale Bezüge und eine Basis einer funktionierenden Nachbarschaft spielen eine wichtige Rolle im Rückkopplungsprozess, durch den soziale Interaktion und Identität in der Nachbarschaft gestärkt werden.
Lokale Bezüge können durch Hashtags gekennzeichnet werden oder namentlich ersichtlich sein, wie z.B. bei der Nachbarschaftsgruppe „Du bist Nippes!“ bei Facebook. Einen weiteren Schritt geht die in Deutschland bislang größte Nachbarschaftsplattform nebenan.de, auf der Nutzer*innen ihren Wohnort angeben müssen und nur miteinander kommunizieren können, wenn sie räumlich tatsächlich in der Nähe wohnen. Auf nebenan.de ist die Nachbarschaft auf einige Straßen eingegrenzt und kann in einer Großstadt wie Berlin z.B. 1.500 bis 6.000 Haushalte umfassen. Und was in der eigenen Nachbarschaft passiert, kann auch nur von dieser gesehen werden. Soziale und räumliche Nähe überlagern sich zunehmend und Nutzer*innen haben einen gemeinsamen inhaltlichen Bezug durch den „Praktiken […] vom virtuellen Raum auf kollektive Aktivitäten vor Ort transferiert werden“ (Bionik et al. 2019: 43). Der geteilte Lebensraum ist als Basis für Nachbarschaft so wiederhergestellt und bietet neue Möglichkeiten der sozialen Verortung und Identifikation in lokalen Kontexten. Für die Auseinandersetzung mit diesem Thema habe ich 7 Interviews mit Nutzer*innen von Facebook-Gruppen und der Plattform nebenan.de geführt und mit autoethnographischen Erfahrungen verbunden.
Digitale Fragmentierung bei fehlendem Know-How
Für das Funktionieren einer gelingenden Kommunikation und Vergemeinschaftung ist die Bedienungsfähigkeit und die Möglichkeit digitaler Erreichbarkeit notwendig. In dem Beispiel von nebenan.de auf Abb. 1 nutzen in der direkten Nachbarschaft 488 Menschen die Plattform. Mit Einbezug der Umgebung sind es über 5.000 Menschen, die die Aktivitäten sehen und darauf mit „Danke sagen“, Kommentaren oder persönlichen Nachrichten reagieren können (s. Abb. 1).
„Also viele Leute sehen das, von denen du gar nicht weißt, dass die das sehen. Und das ist nen bisschen [etwas] was nicht so positiv ist.“ (Annabell, nebenan.de-Nutzerin)
Die eigenen Handlungen, wenn z.B. etwas öffentlich gepostet wird, bleiben im Netz auffindbar und eröffnen so eine gewisse Sichtbarkeit im Digitalen und bei Übertragung der Praktiken, auch im analogen Sozialraum. Wenn ich z.B. eine Müllsammel-Aktion digital plane und im Viertel durchführe, können alle Nutzer*innen zurückverfolgen, wer die verantwortliche Person ist. Der*die Nutzer*in kann nie komplett wissen, wer mitliest und wie zu den Aussagen steht. Digitale Interaktion ist entbunden von Zeit und enthoben von Raum und bietet so eine Angriffsfläche, die weniger kontrolliert werden kann als im analogen Raum (Bionik et al. 2019: 35). Es ist nicht verwunderlich, dass aus Angst vor einem „digitalen Pranger“ (ebd.: 47), viele Interviewpartner*innen lieber in der Rolle der*des passiven Zuschauer*in bleiben, die mitlesen um „up-to-date im Veedel zu bleiben“, wie die Polizistin Miriam, die seit drei Jahren in Nippes wohnt und die Facebook-Gruppe Nippes nutzt. Die Umgangsformen miteinander unterscheiden sich in der Nutzung von lokalen Facebook-Gruppen und nebenan.de. Tanja ist Künstlerin und wohnt seitdem sie 2005 nach Köln gezogen in Nippes. Sie nutzt nebenan.de, um damit mit Nachbar*innen in Kontakt zu kommen. Sie fühlt sich bei nebenan.de wohler als bei Facebook, da im Gegensatz zu Facebook bei auch wirklich nur Menschen aus ihrer Nachbarschaft mit ihr interagieren können und die digitale Vulnerabilität geringer ist.
Zwiespalt digitaler Anonymität
In den Posts, Kommentaren, Veranstaltungshinweisen oder Auseinandersetzungen bei nebenan.de geht es (fast) immer darum, problemlösend zu handeln. Mit Hilfe aus der Nachbarschaft können persönliche Fragen beantwortet, Verantwortung für Missstände in der eigenen Nachbarschaft übernommen (z.B. Müllsammelaktion, Kleiderspendenaufruf) oder Hilfsangebote öffentlich gemacht werden. Auch Mitstreiter*innen für eine Sportgruppe oder den Doppelkopf-Abend und neue Freund*innen können hier gefunden werden. Auf die Nachbarschaft wirdvertraut, wenn es darum geht einen Arztpraxis zu finden oder bei der Suche nach einer entlaufenden Katze zu helfen. Auf Abbildung 2 ist ein Gespräch zu einer Wohnungssuche zu sehen. Der Ton ist respektvoll, es wird Hilfe bei der Suche und Wissen zum Mieter-Vermieter-Verhältnis gegeben. Ein*e Nutzer*in erkundigt sich nach einer Woche sogar, ob die Person bereits eine Wohnung gefunden hat.
Annabell ist Rentnerin und wohnt seit 37 Jahren in Köln und seit 2006 in Nippes. Auch wenn es für ihr Viertel eine eigene Webseite für die Anwohner*innen gibt, nutzt sie auch nebenan.de seitdem sie vor drei Jahren in Rente geganen ist. Hier hat sie bereits eine Literaturgruppe und eine Doppelkopfrunde ins Leben gerufen.
Sie erzählt: „Also es gab schonmal, auch am Anfang, dass ich mich übernommen habe oder Zusagen gemacht habe. Das war zweimal und einmal war mir das auch ganz unangenehm, also dass ich Zusagen gemacht hab, die ich auch nicht eingehalten hab“.
Nebenan.de hat leichte Bedienfunktionen, die eine schnelle Reaktion auf Beiträge ermöglichen, wie z.B. durch die „Danke sagen“ Funktion oder dass eine Frage als beantwortet markiert werden kann. Unverbindlichkeit bei Zusagen für Gruppentreffen ist nach Annabells Erfahrungen sehr groß. Dadurch dass man sich nicht im analogen Leben kennt, sei die Hemmschwelle kurzfristig abzusagen oder sich gar nicht zurückzumelden niedriger und manchen ist es unbehaglich nicht zu wissen, wer die Nachrichten alles lesen kann. Gleichzeitig besteht wie bei Annabell aber auch eine emotionale Verbindlichkeit, da Nachrichten auf Personen zurückverfolgt werden können und die Wahrscheinlichkeit, dass man sich auf der Straße begegnet, durch den lokalen Bezug der Plattform größer ist.
Ausweitung sozialer Netzwerke oder Ausschlussmechanismen?
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass für ein erfolgreiches lokales Netzwerk nicht nur räumliche Nähe ausschlaggebend ist (Üblacker 2019: 145). Sie weisen darauf hin, dass Überschneidungen in Faktoren wie „Lebensphasen, ethnische Zugehörigkeit, Migrationshintergrund, Beschäftigung, Normen, Werte und Lebensstile“ nachbarschaftliche Interaktion begünstigen können (Davidson 2010). Digitale Nachbarschaftsplattformen bieten die Möglichkeit milieuübergreifende Kontakte zwischen Nachbar*innen herzustellen und den sozialen Rückhalt innerhalb eines Quartiers unabhängiger von lokalen Treffpunkten zu stärken (Schreiber und Göppert 2018: 27). Genau so spielen bei meinen Interivewpartner*innen lokale bekannte Treffpunkte, an denen man sich analog begegnen kann, eine Rolle. Das Nippeser Tälchen wird oft als ein Ort genannt, an dem jeden Tag viele Menschen für sportliche Aktivitäten, picknicken, ausruhen und Austausch zusammenkommen. Tim ist 27 Jahre und ist erst vor einem halben Jahr nach Ende des Studiums nach Nippes gezogen. Durch den Winter und die Corona-Pandemie fiel es ihm schwer sich im Veedel einzuleben und er vermisst den vertrauten und offenen Umgang den er aus seiner Kindheit in Dünnwald kennt. Persönliche Einstellungen oder der soziale Hintergrund spielen bei zweckgebundenen Treffen, wenn z.B. jemand einen Gegenstand abholt, erstmal keine große Rolle (Becker et al. 2018: 208). Nutzer*innen von Plattformen für Nachbarschaftsvernetzung teilen das Interesse des geselligen Beisammenseins und kommen dadurch zusammen und miteinander in Kontakt.
„Die meisten Namen vergisst man auch schonmal. Was ich witzigerweise nicht vergesse, ist wo die Leute wohnen. Also ich kann teilweise zuordnen, da habe ich schonmal einen Stuhl abgeholt und hier wohnt die die unsere Holzeisenbahn gekauft hat.“
Friedrich, Familienvater und nebenan.de-Nutzer
Friedrich ist Familienvater und findet den Austausch über digitale Plattformen „hochspannend“. Bei Übergaben kommt es manchmal zwar auch zu einem längeren Austausch, meistens bleibt es jedoch nur bei einem kurzen Danke. Doch die Wiedererkennung einer Person und eines Ortes bleibt durch die lokale Praktik in der Nachbarschaft bestehen.
Soziale Bindungen und gegenseitige Verpflichtungen sind durch die Plattform regulierbare Optionen und werden nicht erzwungen, wie es analog der Fall sein kann. Das digitale Interface ermöglicht in die beschriebene Unverbindlichkeit, die auch geschätzt wird. Doch die Gruppe, die diese Möglichkeiten in Betracht zieht und nutzt, ist häufig sehr homogen. Jugendliche und Senior*innen werden durch digitale Plattformen mit nachbarschaftlichem Bezug kaum erreicht. Es sind besonders 25- bis 70-Jährige die diese nutzen. Das Quartier nimmt in dieser Altersspanne eine wichtigere Rolle ein als während der Schul- und Ausbildungszeit. Die Gebundenheit an den Wohnort wird erst mit Eintritt in den Beruf größer (Schreiber/Göppert 2018: 24). Ältere Menschen (Link: Beitrag Jenny) sind einer stärkeren digitalen Vulnerabilität ausgesetzt, da sie digitale Praktiken häufig erst neu aneignen müssen. Auch der sozio-ökonomische Hintergrund ist durch Nutzer*inenn aus der Mittelschicht mit einem hohem Bildungsniveau überrepräsentiert. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass bis jetzt vor allem early adoptors, also Menschen die bereits sehr jung digital interaktiv sind, Nachbarschaftsplattformen nutzen. Zu den early adoptors gehören bei nebenan.de Menschen mit einem höheren sozialen Status, besserer Bildung und einer positiven Einstellung zu Wandel und damit auch zu der Möglichkeit digitale Medien für sozialen Zusammenhalt in der Nachbarschaft zu nutzen (Potthoff 2016: 103).
Meine eigenen Anfragen für Interviews auf nebenan.de zeichnen gleichzeitig ein anderes Bild. Mehr als die Hälfte der Antworten kamen von Senior*innen. Annabell sagt, dass es „auch die Leute [sind], die mehr Zeit haben oder sich Zeit nehmen können[.]“ Dies lässt vermuten, dass sich die Digitalisierung auch bei Rentner*innen schneller etabliert als eventuell angenommen wird. Mehr zu Digitalisierung und Alter gibt es hier „Nie zu alt fürs Internet?“.
Soziale Verbundenheit durch lokale Verbundenheit
Mehr soziale Offenheit und eine niedrige Hemmschwelle zur Vernetzung von Menschen mit lokalem Lebensumfeld als Gemeinsamkeit ist ein Ziel von Nachbarschaftsplattformen. Nutzer*innen digitaler Medien in dieser Forschung empfinden weniger Hemmungen digital in Interaktion mit Nachbar*innen zu gehen. Dabei scheint der Aspekt der geringen Verpflichtung und Unverbindlichkeit eine Rolle zu spielen. Es scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass die Plattformen genutzt werden, um soziale Interaktion zu fördern und anderen zu helfen und der Gemeinschaft etwa bei der Wohnungssuche vertraut werden kann. Genau so ist es auch okay nur stille*r Mitleser*in zu sein, wenn die Interaktion digital bleibt oder es über schnelle „Übergabe-Treffen“ nicht hinausgeht. Dass der analoge und digitale Austausch bei nebenan.de so gut funktioniert, liegt vermutlich auch daran, dass die Nutzer*innen aus einem homogenen sozial-ökologisch ähnlichen Umfeld kommen und digitale Interaktion als Top-on zu einer bereits gut funktionierenden Nachbarschaft genutzt wird. Die gemeinsame lokale Verortung und die Verbindlichkeit, die für manche entsteht, wenn sie digitale Interaktionen mit ihrem alltäglichen Lebensumfeld verbinden, ist ein wichtiger Bezugspunkt für die Beziehung und den Umgang der Nutzer*innen miteinander.
Milena Otte
Milena Otte, geb. 1992, studierte im Bachelor Medienwissenschaft und Sinologie in Tübingen und seit 2020 Transkulturelle Studien an der Universität Bonn. Neben ihrem Studium arbeitet sie in der Quartiersentwicklung im WandelWerk Köln. Sie beschäftigt sich dort praktisch mit Bürger*innen-Beteiligungsformaten und der partizipativen Gestaltung des Guten Leben im Liebigquartier.
Quellen
Alle Feldforschungsmaterialien wurden anonymisiert und liegen bei der Autorin.
- Becker, Anna/Göppert, Anna/Schnur, Olaf/Schreiber, Franziska (2018): Die digitale Renaissance der Nachbarschaft. Soziale Medien als Instrument postmoderner Nachbarschaftsbildung. In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, S. 206–2010.
- Bionik, Peter/Selke, Stefan/Achatz, Johannes (2019): Soziodigitale Nachbarschaften. Der Wandel von Nachbarschaftsverhältnissen unter dem Einfluss von Digitalisierung. In: Rolf G. Heinze/Sebastian Kurtenbach/Jan Üblacker (Hg.): Digitalisierung und Nachbarschaft. Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung? 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos (Wirtschafts- und Sozialpolitik, Band 21), S. 35–90.
- Davidson, Mark (2010): Love Thy Neighbour? Social Mixing in London’s Gentrification Frontiers. In: Environ Plan A 42 (3), S. 524–544. DOI: 10.1068/a41379.
- Potthoff, Matthias (Hg.) (2016): Schlüsselwerke der Medienwirkungsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
- Schreiber, Franziska/Göppert, Hannah (2018): Wandel von Nachbarschaft in Zeiten digitaler Vernetzung. Endbericht. Hg. v. vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. Berlin.
- Üblacker, Jan (2019): Digital vermittelte Vernetzungsabsichten und Ressourcenangebote in 252 Kölner Stadtvierteln. In: Rolf G. Heinze/Sebastian Kurtenbach/Jan Üblacker (Hg.): Digitalisierung und Nachbarschaft. Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung? 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos (Wirtschafts- und Sozialpolitik, Band 21), S. 143–164.
0 Kommentare